Und Segeln soll Therapie sein? Bedeutet das Wort doch im eigentlichen Sinne „Behandlung von Krankheiten oder Behinderungen“, denkt man sogleich an Krankengymnastik, Motopädie, Sprach- oder Ergotherapie? Ganz sicher erheben wir nicht den Anspruch eines dieser kompletten Berufsbilder. Aber ein Boot oder Schiff zu steuern, die richtigen Handgriffe zum richtigen Zeitpunkt zu machen, bei allen Bewegungen Gleichgewicht zu halten und manchmal auch Ängsten ausgesetzt zu sein, stellen insofern therapeutische Situationen dar, als sie
- Wahrnehmung/Wahrnehmungsintegration
- Motorik, Handlungskonzepte
- Emotionalität
- Sozialverhalten
in besonderem Maße positiv beeinflussen. Nehmen wir als Beispiel den Bereich der Wahrnehmungsstörungen. Sie sind bei der Mehrzahl unserer Schüler vorhanden, Als Störungen bei der hirnorganischen Reizverarbeitung behindern sie Lernen auf allen Ebenen. Vor allem die Wahrnehmungsintegration - das Zusammenspiel der einzelnen Wahrnehmungen – funktioniert meist nur fehlerhaft. Ist die Körperbehinderung nur gering, können W. zu einem zentralen Problem werden.
Bei Björn leidet beispielsweise die Entwicklung des Selbstwertgefühls erheblich. Der Junge erlebt sich „defizitär“ und ergibt sich seiner Schwäche. Damit das Leben mit einem solchen Problem erträglicher wird, beginnt er, mit seiner Schwäche zu kokettieren. Der sympathische Junge entdeckt, dass andere sein Defizit als „liebenswerte Marotte“ sehen. Damit kann er leben, erreicht ihn doch eine positive Wertschätzung. Warum also daran mühsam arbeiten? Jeder macht schließlich am liebsten das, was er gut kann. Hinweise der Lehrer auf drohende Abhängigkeiten und Unselbständigkeit nach der Schulzeit erscheinen einem 14 jährigen außerdem Lichtjahre entfernt.
Dieses festgefahrene System kann die Schule nur durch Lernangebote aufbrechen, die Neugier und Motivation dauerhaft wecken. Die Bereitschaft wecken, zum wer-weiß-wievielten Male das alte Problem anzugehen. Wahrnehmungsstörungen lassen sich nur durch intensives und wiederholtes Üben beeinflussen. Es dauert eben länger, bis Bewegungsabläufe automatisiert und sicherer Bestandteil des Verhaltens geworden sind. Segeln leistet hierzu einen wichtigen Beitrag.
Sicher sind therapeutisch wirksame Situationen nur begrenzt planbar. Wir wissen nicht vorher, dass Igor während der Reise „auftaut“. Aber wir wissen, dass es in den Jahren vorher unter normalen schulischen Bedingungen nicht gelungen war. Und dass er die Chance hat, bei einer positiven Gruppendynamik etwas zu ändern.